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label Historischer Hintergrund

Diskussion seitens des Bundespräsidenten Steinmeier am 150. Jahrestag der Reichsgründung

17.07.2021 fingerprint CJ

Was machte das Kaiserreich aus? Wie war sein Verhältnis zum Rest Europas? Und welche Parallelen gibt es zu heutigen Geschehnissen?

Im Gespräch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit vier Historikern am 13. Januar, zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871, werden diese und weitere Fragen beantwortet.


„Sollte man der Reichsgründung gedenken?“ Mit dieser Frage leitet Bundespräsident Steinmeier in die Diskussion mit den vier Historikern Hélène Miard-Delacroix, Christina Morina, Sir Christopher Clark und Eckart Conze ein. In seiner einführenden Rede betont Steinmeier die Kontroversen um das Thema, die eine großangelegte Feier der Reichsgründung unangemessen erscheinen lassen. Denn der 18. Januar 1871 sei nicht nur ein Tag der Einheit Deutschlands, sondern vor allem ein Tag der Demütigung Frankreichs und der Begründung eines Reiches, das im Weltkrieg geendet habe, so der Bundespräsident. Aus diesem Grund finde zum Gedenken an das für die deutsche Geschichte wichtige Ereignis keine Feier, sondern eine Diskussion statt. Der Blick zurück sei notwendig. Denn eine kritische Auseinandersetzung sei auch für die Gegenwart entscheidend: Steinmeier weist auf Auswirkungen des Reiches auf die Bundesrepublik hin, außerdem gebe es Parallelen in der heutigen Entwicklung mit der Geschichte des Kaiserreiches. Man müsse also, wie so oft, aus der Geschichte lernen.


Für den Bundespräsidenten ist also der Tag der Reichsgründung kein Tag der Freude, sondern viel mehr ein Ereignis, dem man kritisch gegenüberstehen und dessen Auswirkungen auf Geschichte und Gegenwart man von allen Seiten betrachten sollte. Genau dies versucht die folgende Diskussion der Historiker zu leisten.


Die erste Frage Steinmeiers richtet sich an Hélène Miard-Delacroix, Professorin für deutsche Zeitgeschichte in Paris: Wie ist die französische Sicht auf die Reichsgründung?

In Frankreich, so Delacroix, bedeute die Demonstration deutscher Macht im Spiegelsaal von Schloss Versailles eine Demütigung, ja sie sei sogar ein entscheidender Grund für die deutsch-französische Erbfeindschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen. Delacroix spricht von einem „Sündenfall“ für die Jahre danach.


Steinmeier fragt weiter: Das Deutsche Reich sei gewissermaßen „mit dem Säbel“ gegründet worden - gab es das nur in Deutschland?

Der Marburger Geschichtsprofessor Eckart Conze spricht daraufhin von gewissen Ähnlichkeiten in ganz Europa (beispielsweise Italien), allerdings sei die deutsche Reichsgründung mit den drei Einigungskriegen von ganz anderem Ausmaß. Denn der Einfluss des Militärs sei in anderen Ländern nicht so stark gewesen. Die Gründung des Kaiserreichs war laut Conze eine „Kriegsgeburt“ ohne jegliche demokratischen Einflüsse.


Nun meldet sich auch Sir Christopher Clark, Professor in Cambridge, zu Wort. Zwar stimmt er Conze zu, allerdings ist Clark der Meinung, dass die Reichseinigung auf anderem, demokratischen und friedlichen Wege nicht erreichbar gewesen wäre. Deshalb könne man beim Kaiserreich nicht von einer „Fehlgeburt“ sprechen – keine Nation werde „normal“ geboren, sondern stets durch andere, oft gewaltvolle Prozesse.


Nach diesem Einwurf stellt der Bundespräsident die nächste Frage: Kann man von „zwei Kaiserreichen“ sprechen – einem unter Bismarck von 1871 bis 1890 und dem anderen nach Bismarcks Rücktritt von 1890 bis 1914? Lassen die Unterschiede zwischen den beiden Phasen eine solche Unterscheidung zu?

Clark antwortet mit deutlicher Zustimmung. Denn nach dem Rücktritt Bismarcks habe sich der außenpolitische Kurs des Reiches deutlich geändert. Man habe nun „klare Verhältnisse“ schaffen und klar definieren wollen, wer Feind und wer Freund ist. Mit schwerwiegenden Folgen: durch die Entfremdung von Russland sei es zu dessen Annäherung an Frankreich gekommen.

Eckart Conze widerspricht hingegen einer solchen Trennung der zwei Phasen. Durch eine solche Trennung, stellt Conze fest, werde Bismarck zum „Guten“ und Wilhelm II. zum „Bösen“ – und das sei schlichtweg falsch. Auch Bismarcks Außenpolitik habe schon der späteren radikaleren Form geähnelt. So habe auch er eine umfassende Abgrenzung von Frankreich betrieben. Diese Meinung teilt auch Delacroix. Sie relativiert Bismarcks Größe und beschreibt seine Politik mit den Worten: „Ich gegen die anderen“. Auch er habe also stets nur das Ziel der Durchsetzung der eigenen deutschen Interessen verfolgt und keine Annäherung Deutschlands an Europa gefördert.


Steinmeiers nächste Frage bezieht sich auf genau solche Annäherungsversuche: Gab es im Kaiserreich ein Streben nach einer Friedensordnung für Europa? Delacroix verneint, doch zeigt sie sich überzeugt, dass die heutige friedensorientierte Politik Europas mit den damaligen kriegerischen Erfahrungen zusammenhänge. Denn aus den Auseinandersetzungen habe man gelernt, dass man durch internationale Zusammenarbeit deutlich mehr erreichen könne, als durch gegenseitige Entfremdung.


Auf Steinmeiers Frage, ob es eine Art „Opfermythos“ gegeben habe, also die Vorstellung innerhalb des Reiches, man sei (vor allem durch den vergleichsweise gering ausgeprägten Kolonialismus) abgeschnitten von einer vorteilhaften Entwicklung, wie sie andere europäische Staaten genommen hätten, antwortet Christina Morina, Geschichtsprofessorin aus Bielefeld. Ja, es habe diesen Anspruch gegeben, Deutschlands Macht durch Expansionismus auszubauen, gegeben. Denn in der Bevölkerung habe ein Unsicherheitsgefühl geherrscht – man habe sich im europäischen Vergleich als zu schwach gesehen.


Daraufhin fragt der Bundespräsident nach dem Grund für die starken innenpolitischen Feindseligkeiten im Kaiserreich. Er bezieht sich hierbei vor allem auf die Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten wie polnischen, jüdischen oder katholischen Bürgern.


Laut Conze gehörte die außen- und innenpolitische Feindesbekämpfung zusammen. Die deutsche Politik habe die Stabilisierung der Nation angestrebt und sie durch eine Art „nationaler Homogenität“ erhalten wollen. Clark stimmt zu, verweist aber auch auf die Tatsache, dass der Kulturkampf kein deutsches „Unikum“ gewesen sei. Außerdem geht er darauf ein, dass Bismarcks Innenpolitik nicht von Erfolg gekrönt gewesen sei: Aus den Spannungen zwischen den Minderheiten habe sich in der Bevölkerung ein wachsendes Streben nach politischer Partizipation entwickelt – Bismarck habe das genaue Gegenteil gewollt.


Hierauf fragt Steinmeier erneut nach dem europäischen Vergleich: Wäre eine derartige Ausgrenzung von Minderheiten auch in Frankreich möglich gewesen? Delacroix bestreitet dies, denn in Frankreich sei es vor allem darum gegangen, das Prinzip der Republik zu respektieren. Feinde seien nicht bestimmte Minderheiten gewesen, sondern diejenigen Menschen, die sich gegen das System gestellt hätten. Allerdings merkt Delacroix an, dass Antisemitismus auch in Frankreich verbreitet gewesen sei.


Gegen Ende des Gesprächs fragt der Bundespräsident nach dem Grund für die starke Modernisierungsdynamik im Kaiserreich. Eckart Conze sieht den Grund in der enormen wirtschaftlichen Entwicklung in Folge der Reichsgründung. Christoph Clark verweist auch auf die enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Industrie und merkt an, dass dieses große wirtschaftliche Wachstum bei den anderen europäischen Staaten für Unruhe gesorgt habe, man habe Deutschland als Bedrohung wahrgenommen. Clark vergleicht dies mit der heutigen Situation Chinas, das den Rest der Welt durch seine wachsende wirtschaftliche Macht einschüchtere.


Nach dieser Parallele zu China fragt Steinmeier am Ende noch einmal die restlichen Gesprächsteilnehmer. Conze ist der Meinung, der Vergleich sei angemessen, denn gewissermaßen suche China heute, wie das Deutsche Reich damals, seinen „Platz an der Sonne“ und trete auch außenpolitisch sehr stark auf. Hélène Miard-Delacroix teilt diese Einstellung. Auch Christina Morina versteht dies, hält aber den Vergleich dennoch für schwierig – sie sieht nicht genug Parallelen zwischen den beiden Ländern, um sie angemessen vergleichen zu können.


Die Antwort auf die Eingangsfrage von Frank-Walter Steinmeier lautet also: Ja, man sollte der Reichsgründung gerade wegen all der Kontroversen gedenken, die sie hervorruft, und immer wieder das Gespräch suchen. Denn man könne so Vieles aus der Geschichte des Deutschen Reiches lernen und auf die heutige Zeit übertragen. Im Gespräch mit dem Bundespräsidenten wurden viele verschiedene, divergierende Sichtweisen auf das Thema erkennbar, und es wurden aufschlussreiche Parallelen zu unserer Gegenwart aufgezeigt.


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